Exposé | Frank Töppe | Katalog
Leseprobe zu
IM ZEICHEN DER DREI GOLDENEN HAARE


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2. PARALLELISIERUNG
Was ist ein König?

Die Frage scheint müßig; jeder weiß doch, was ein König ist. Es gibt ihn noch. In der Zeit gar, da die Märchen aufgezeichnet wurden, war das Königtum eine verbreitete, fast könnte man sagen normale Regierungsform.
     Aber das Königtum bietet in beiden Texten Anlaß zum Erzählen: Glückskind ist geweissagt, es wird die Tochter des Königs heiraten, der dumme Hans bricht auf, dieselbe zu heilen und zur Frau zu bekommen; wir sollten unabhängig davon, was wir darunter verstehen, klären, was in den Texten mit diesem Amt, diesem Titel gemeint sein könnte.
     Wie gehen wir vor? wir vertrauen uns einer akzeptierten Definition des Amtes an und prüfen, ob sie für die Könige unserer Texte zutrifft.
     In MEYERS GROSSEM TASCHENLEXIKON lesen wir: nach dem Kaiser der Träger höchster staatlicher Gewalt oder höchster Repräsentant in der Monarchie. Das Königtum des Mittelalters ist aus den auf dem Boden des Imperium Romanum entstandenen germanischen Reichen hervorgegangen, deren Herrschaftsvorstellungen auf zwei Wurzeln zurückzuführen sind: 1. das Volkskönigtum der Kleinstämme der germanischen Frühzeit, dessen Träger aus einer Königssippe stammten, die sich oft durch Abstammung von den Göttern legitimierte; 2. das Heerkönigtum.
     Noch heute ist das Königshaus, die Herkunft, Voraussetzung des königlichen Amtes. Man erbt den Titel. Aber da bemerken wir einen auffälligen Widerspruch: in unseren Texten wird ein dem Königshaus nicht zugehöriger Jüngling Herrscher, freilich nachdem er die Königstochter zur Frau nahm. Wir könnten sagen: indem er diese heiratet, rückt er zur Königsfamilie auf. Warum aber wird er König und nicht die Tochter Königin? Wir könnten sagen: es muß eben ein König herrschen, nicht eine Königin. All das sind Voraussetzungen, unsere Vorstellungen, die wir in dieser Weise in den Text gleichsam hineinlesen. Das kann zutreffen, muß aber nicht.
     Prüfen wir, was in den Texten steht: wir finden in beiden a) einen König, der eine Tochter hat. Im Teufels-Märchen wird eine Königin erwähnt, im Greifen-Märchen nur König und Tochter. Genügt derlei als Hinweis auf eine königliche Sippe? nein. Wir finden b) im Teufels-Märchen den Sohn einer armen Frau, dem geweissagt wird, er werde nach 14 Jahren die Tochter des Königs heiraten; im Greifen-Märchen sagt der König dem Tochter und Königtum zu, der das Mädchen heilt. Ist uns damit Hinweis auf eine königliche Sippe gegeben? nein. Allen Erzählungen, auch jenen, die wir im III. Teil in das Betrachten mit einbeziehen werden, scheint die Regel zum Grunde zu liegen, daß nicht der Sohn des Herrscherpaares, sondern der Mann der Tochter die Nachfolge in der Regierung antritt.
     Dafür gibt es eine einfache Erklärung: die Könige haben Töchter, jedoch keine Söhne. Mithin erben sie das Königreich und mit ihnen die Männer, die sie heiraten.
     Aber in den Texten wird die Tochter nicht Königin, das meint: nicht sie erbt das Reich, sondern die Jünglinge heiraten die Königstöchter und werden Könige trotz aller Schwierigkeiten, die ihnen die Herrscher in den Weg legen.
     Die Regel, daß nicht der Sohn des Herrscherpaares, sondern der Mann der Tochter die Nachfolge in der Regierung antritt, nennt man uxorische Herrschaftsfolge. NARR schreibt: Nicht ein unmittelbarer Blutsverwandter einer die Erbfolge tragenden Frau übernimmt hier die Herrschaft, sondern ihr angeheirateter Mann. Eine Auswahl von Hinweisen auf Derartiges gibt es bei Homer und auch bei Hesiod sowie für die sagenhaften Könige der römischen Frühzeit. Ob diese Form tatsächlich auf den alten Mittelmeerraum beschränkt war, aus dem die spärlichen und undeutlichen Reste stammen, muß dahingestellt bleiben.
     Freilich ist in unseren Texten von Brüdern der Königstöchter keine Rede. Dennoch ist auffällig, daß unsere Helden über die Verheiratung mit den Königstöchtern königliche Würde zu erringen trachten (dummer Hans) oder von einer entsprechenden Weissagung betroffen sind (Glückskind).
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