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2. PARALLELISIERUNG
Was ist ein König?
Die Frage scheint müßig; jeder weiß doch, was ein König
ist. Es gibt ihn noch. In der Zeit gar, da die Märchen aufgezeichnet
wurden, war das Königtum eine verbreitete, fast könnte man sagen
normale Regierungsform.
Aber das Königtum bietet in beiden Texten
Anlaß zum Erzählen: Glückskind ist geweissagt, es wird die
Tochter des Königs heiraten, der dumme Hans bricht auf, dieselbe zu heilen
und zur Frau zu bekommen; wir sollten unabhängig davon, was wir darunter
verstehen, klären, was in den Texten mit diesem Amt, diesem Titel gemeint
sein könnte.
Wie gehen wir vor? wir vertrauen uns einer
akzeptierten Definition des Amtes an und prüfen, ob sie für die
Könige unserer Texte zutrifft.
In MEYERS GROSSEM TASCHENLEXIKON lesen wir: nach
dem Kaiser der Träger höchster staatlicher Gewalt oder höchster
Repräsentant in der Monarchie. Das Königtum des Mittelalters ist aus
den auf dem Boden des Imperium Romanum entstandenen germanischen Reichen
hervorgegangen, deren Herrschaftsvorstellungen auf zwei Wurzeln
zurückzuführen sind: 1. das Volkskönigtum der Kleinstämme
der germanischen Frühzeit, dessen Träger aus einer Königssippe
stammten, die sich oft durch Abstammung von den Göttern legitimierte; 2.
das Heerkönigtum.
Noch heute ist das Königshaus, die Herkunft,
Voraussetzung des königlichen Amtes. Man erbt den Titel. Aber da bemerken
wir einen auffälligen Widerspruch: in unseren Texten wird ein dem
Königshaus nicht zugehöriger Jüngling Herrscher, freilich
nachdem er die Königstochter zur Frau nahm. Wir könnten sagen: indem
er diese heiratet, rückt er zur Königsfamilie auf. Warum aber wird er
König und nicht die Tochter Königin? Wir könnten sagen: es
muß eben ein König herrschen, nicht eine Königin. All das sind
Voraussetzungen, unsere Vorstellungen, die wir in dieser Weise in den Text
gleichsam hineinlesen. Das kann zutreffen, muß aber nicht.
Prüfen wir, was in den Texten steht: wir
finden in beiden a) einen König, der eine Tochter hat. Im
Teufels-Märchen wird eine Königin erwähnt, im
Greifen-Märchen nur König und Tochter. Genügt derlei als Hinweis
auf eine königliche Sippe? nein. Wir finden b) im Teufels-Märchen den
Sohn einer armen Frau, dem geweissagt wird, er werde nach 14 Jahren die Tochter
des Königs heiraten; im Greifen-Märchen sagt der König dem
Tochter und Königtum zu, der das Mädchen heilt. Ist uns damit Hinweis
auf eine königliche Sippe gegeben? nein. Allen Erzählungen, auch
jenen, die wir im III. Teil in das Betrachten mit einbeziehen werden, scheint
die Regel zum Grunde zu liegen, daß nicht der Sohn des Herrscherpaares,
sondern der Mann der Tochter die Nachfolge in der Regierung antritt.
Dafür gibt es eine einfache Erklärung:
die Könige haben Töchter, jedoch keine Söhne. Mithin erben sie
das Königreich und mit ihnen die Männer, die sie heiraten.
Aber in den Texten wird die Tochter nicht
Königin, das meint: nicht sie erbt das Reich, sondern die Jünglinge
heiraten die Königstöchter und werden Könige trotz aller
Schwierigkeiten, die ihnen die Herrscher in den Weg legen.
Die Regel, daß nicht der Sohn des
Herrscherpaares, sondern der Mann der Tochter die Nachfolge in der Regierung
antritt, nennt man uxorische Herrschaftsfolge. NARR schreibt: Nicht
ein unmittelbarer Blutsverwandter einer die Erbfolge tragenden Frau
übernimmt hier die Herrschaft, sondern ihr angeheirateter Mann. Eine
Auswahl von Hinweisen auf Derartiges gibt es bei Homer und auch bei Hesiod
sowie für die sagenhaften Könige der römischen Frühzeit. Ob
diese Form tatsächlich auf den alten Mittelmeerraum beschränkt war,
aus dem die spärlichen und undeutlichen Reste stammen, muß
dahingestellt bleiben.
Freilich ist in unseren Texten von
Brüdern der Königstöchter keine Rede. Dennoch ist
auffällig, daß unsere Helden über die Verheiratung mit den
Königstöchtern königliche Würde zu erringen trachten
(dummer Hans) oder von einer entsprechenden Weissagung betroffen sind
(Glückskind).
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