Exposé | Frank Töppe | Katalog
Leseprobe zu
DAS GEHEIMNIS DES BRUNNENS - Band I

ENTREE

Wenn Gold=Marie in den Brunnen springt, findet sie sich wieder im Himmel. das jedenfalls müssen wir annehmen, da es, wenn sie die Betten der Frau Holle aufschüttelt, bei uns Irdischen schneit.
     Was also für eine seltsame Schalt=Stelle ist der Brunnen? als er die Tiefe mit der Höhe verbindet?
     Zum einen hält er Wasser zur Verfügung. die TIEFE gibt uns reines, klares, kühles Naß. das ganze Jahr: so oft wir den Eimer herabsenken und gefüllt aufholen: das Wasser bleibt dort unten in Niveau und Qualität beständig.
     Ist das Wasser, als wir es dem Brunnen entnehmen, von kristallener Schönheit und Helle, unten, so wir hinabschauen in die Tiefe, ist es schwarz, rätselhaft und still. ist nichts anderes als: da. und spiegelt in eigentümlicher Gelassenheit den Himmel. und uns.
     Das Wasser oben um uns ist von vielfältiger Beweglichkeit: springt in Bächen, fließt in Flüssen, steht im Teich, fällt als Regen, Hagel, Schnee. Des Sommers hilft es in seiner belebenden Frische dem Wachsenden auf, im Winter, da es der Frost steinhart friert und der Schnee das Land mit weissem Pulver bedeckt, macht es die Welt tot und stumm.
     Das Wasser im Brunnen aber bleibt davon unberührt. Es springt nicht, siedet nicht, verrinnt nicht, gefriert nicht. Es spiegelt den Himmel und füllt uns den Eimer. ist unten schwarz wie Blei und oben von klarster Helle.
     Hat das Wasser um uns viele Arten zu sein, im Brunnen ist es beständig: selbst. so als wäre das Wasser des Brunnens die Urkraft desselben. als das Wasser jenseits des Wassers, das uns nur im Brunnen erscheint, als das SEIN, das nicht nur sich selbst fortwährend gibt, sondern alles, was über ihm erscheint, wieder=zeigt. Es gibt allem, was sich über es beugt, klares AbBild.
     So erhält uns das Wasser des Brunnens die Kraft des Lebendigen, ja, gibt sie, da jenes auf der Erde, zu Eis und Schnee gefroren, uns ein TodFeind ward.
     Wenn das Wasser des Brunnens die UrKraft desselben ist, so muß es allen Wassern gebieten. allen Wassern in allen Formen: jenes, das aus der Erde quillt, ist freilich vom Brunnen geschickt, ja, ist der Brunnen selbst, unterschied man doch sprachlich nicht zwischen der Quelle und dem Brunnen. Aber auch zum Himmel muß es eine Verbindung haben, als er es von oben regnen und schneien läßt.
     Spiegelt es nicht das OBEN? unten tief im//aus dem Schoß der Erde? verbindet das Wasser des Brunnens nicht also auf geheimnisvolle Weise das Disparateste: die vollkommene Trennung des OBEN und des UNTEN in Himmel und Erde? gebietet es nicht den Kräften des Himmels und der Erde, daß sie im KREIS DES JAHRES zueinander finden? bewirkt es also nicht den zyklischen Verlauf desselben, womit die Energien disparater Orte zueinander finden, das Lebendige zu ermöglichen?
     denn die Kräfte, gesondert gehalten, sind von tödlicher Einseitigkeit: die Sonne des Himmels dörrt, während das Wasser der Erde ertränkt. Für sich sind sie zuviel an sich, und beherrschen den Ort, wo sie also Gewalt haben, zueinandergeführt, nimmt das Wasser von der Sonne ein gut Teil seiner lethargischen, ertränkenden Kraft, indem sie es in verschiedener Weise bekräftigt, gar aufhebt zu sich, verfrachtet und als Regen sanft verstreut.
     Die ATMOSPHÄRE ist der Ort, wo das Wasser des Brunnens und die Hitze der Sonne miteinander tun. und wo die Vielfalt der Erscheinungen die Nuancen des Lebendigen wie natürlich gewähren, und jene vereinseitigende Kraft, die, also dominierend, tödlich wirkt, verhindern.
     Wenn Gold=Marie in den Brunnen springt, fällt sie in das Reich bewirkender Kraft.
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