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Leseprobe zu
EIN GASTMAHL GOETHES


[...]
Goethe kommt! Die Tür öffnete sich. er kam mit der lächelnden Erwartung des WiderScheins in den Raum: aus dem brunnengleichen Schwarz der Pupillen strahlte der Glanz.
     - Seien Sie gegrüßt, Marquis de Sade.
     - Ich bin nicht de Sade, Exzellenz.
     eine leichte Verwirrung. er liebte es nicht, unhöflich zu scheinen. Wenn man ihn kannte - außer Hölderlin erkannte ihn jeder - wollte er gern zeigen, daß er von denen gleichermaßen wußte, die ihm gegenübertraten. denn die Verdienste ordnen die Menschen, nicht ihre bloße Existenz.
     Goethe entschloß sich, da er den Mann also kennengelernt, zur Direktheit, die er, sollten die Zeichen entsprechend stehen, gegen Diplomatie und Konversation bevorzugte.
     - Die Verabredung aber war mit dem, den ich nannte, sagte schließlich Goethe.
     Der Angesprochene legte das Buch, den Werther freilich, auf den Tisch zurück, wo es gelegen hatte, wandte sich Goethe vollends zu und sagte:
     - Ich heiße Bataille.
     - Mir hatte man einen Schriftsteller gemeldet, der auf dem Wege vom Schwarzwald nach Sibirien bei mir vorsprechen wollte. Entgegnete Goethe. und trieb es damit zu dem Punkt, wo die beiden Männer sich selbst vertraut machen mußten: von jeder Struktur abgeschnitten, müßten sie diese durch die Eröffnung des Vertrauens um sich errichten: nun aber in dem Maße, wie sie es in wechselseitiger Aufschließung miteinander bestimmen wollten: es würde demnach eine Struktur der Bedeutung, Gebärden und Zeichen notwendig, die sie allein betraf. niemand sonst.
     - Das mag so sein, antwortete Bataille mit lächelnder Unbestimmtheit.
     - Ich wundre mich dann, versetzte Goethe, wie schnell Sie Ihren Namen wechseln konnten. und Ihre Identität? Und was Sie treibt, von kaltem Winter durch Winter, sich das Kalte zum Ziel zu nehmen?
     - Sie können mich, Exzellenz, nicht kennen, da Sie, wenn ich lebe, längstens gestorben sind.
     Goethes großer, groß gehaltener Körper in dem grauen Mantel mit dem Orden, den er sich von Humboldt erbeten hatte, um den ihm von Napoleon überreichten nicht mehr tragen zu müssen, ließ einen winzigen Moment seines Haltes fahren. das krümmte um eine Spur seinen Rücken.
     in dieser Haltung würde nun Goethe verbleiben, denn er wußte sich DEM gegenüber, was er beständig versuchte: ein ZEICHEN von sich in dem ALLEN, darein er beständig sah.
     daß die Spiegel lügen, wußte er von Anbeginn. er mochte sie nicht, sondern hatte bislang auf das Bild von sich im anderen geschaut. sich darin zu sehn.
     Dieser Spiegel war nun zerbrochen. Er würde während der Dauer des Gesprächs in die Wahrheit blicken. Er lachte darob, dunkel, daß sein Körper bebte.
     - Sind Sie dennoch der, der fährt? fragte er. In jener Jahreszeit, die uns in die Räume zwängt und mich jeder Arbeit entschlägt?
     - Die Antwort, sagte Bataille, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. denn ich bin wohl beständig auf Reisen in dem, was Sie den Winter nennen: Ort ist mir der Raum, wie er Stube, Straße oder Cafe ist.
     - Dann freilich, versetzte Goethe, wäre der Blick Ihrer Natur: in Sie selbst. und nicht in das, was Gestalt=werdend um uns ist.
     Sie standen sich noch immer gegenüber. Goethe hatte den Handschlag vermieden. er wußte nicht, wohin er greifen würde. und was.
     Natur wäre weder Brei noch Fels, weder unbehauen noch ziseliert, entgegnete Bataille. er wollte den Dichter nicht aus der Höhe fortgeschrittener Äonen besprechen. wollte ihn vor jeder Resignation bewahren.
     Aber Goethe war ja in die WAHRHEIT gefallen. in der Wahrheit kannte er keinerlei Resignation.
     - Ist das Ihre Antwort auf das Problem der Gestalt? fragte er den Gast nicht ohne Ironie.
     Bataille nickte. mit einem Blick auf den Werther: einmal, um dem Goethes auszuweichen. zum anderen, auf das zu sehen, worin er die Antwort wußte.
     Der Dichter verstand die Geste. schließlich kannte er jede Nuance des Werks.
[...]




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